Musikergesundheit
Musikergesundheit
Als Musiker*innen stellen wir die Musik in den Mittelpunkt unseres Lebens. Mit allen schönen Erfahrung die ein solches Leben beinhalten kann heißt das auch, dass wir ein Leben lang hohen Bewegungsanforderungen gerecht werden müssen.
Dabei gebrauchen wir unsere Motorik um uns musikalisch auszudrücken. Ein komplexer und emotionaler Vorgang, bei dem wir nicht nur die Musik, sondern auch uns selber auditiv darzustellen versuchen, indem wir kleinstmögliche Bewegungen, vor allem mit den Fingern, dem Mund, den Füßen und dem Unterbauch samt Atmung ausführen.
Es gibt viele Faktoren die sich hemmend auf eine Bewegung und damit auf unsere Möglichkeit uns musikalisch auszudrücken, auswirken können. Unter anderem können Körpergewohnheiten, Instrumentalhaltung, instrumentaltechnische Bewegungsvorstellungen, Atem- und Ansatzvorstellungen, Instrumentalergonomie, Übe- und Lerngewohnheiten, mentale Aspekte und berufstypische Situationen wie Konzerte, Wettbewerbe oder Probespiele hinderlich auf Atmung und Bewegung wirken.
Sind wir nicht dazu in der Lage förderliche von hemmenden Faktoren zu unterscheiden, versucht unser Körper den Anforderungen dennoch gerecht zu werden um unserem Willen zu genügen und aus hemmenden Faktoren können so Probleme entstehen, die unsere feinmotorischen Fähigkeiten gänzlich zum Erliegen bringen.
Schmerzende Muskeln im Rücken-, Nacken- und Schulterbereich oder in der Beugemuskulatur der Arme sowie schmerzende Nerven, die als Beispiel in einer Sehnenscheidenentzündung kulminieren können, sind typische Erscheinungen einer körperlichen Überbelastung beim Musizieren und stellen zumeist das Ende einer hemmenden Entwicklung dar.
In meiner Arbeit mit Musiker*innen widme ich mich genau dieser Grauzone in der die Musik entsteht und setze dabei meinen Fokus auf die funktionalen und individuell natürlichen Wege, die uns als Musiker*innen dazu befähigen unseren Beruf ein Leben lang genießen zu können.
Unterricht in Dispokinesis
- Was ist Dispokinesis?
Wie schön wäre es, wenn die Aufregung vor Konzerten oder Probespielen mit nichts Negativem assoziiert werden würde, da wir uns auf unseren Körper verlassen können und durch die besondere Situation eher dazu neigen über uns hinaus zu wachsen.
Wenn wir keinerlei Schmerzen hätten oder Störungen im Bewegungsablauf und uns vollkommen der Musik hingeben könnten?
In seiner Arbeit mit Musiker*innen ist dem niederländischen Pianisten und Physiotherapeuten Gerrit Onne van de Klashorst aufgefallen, dass das Erfahren von feinmotorischer Leichtigkeit am ehesten gelingen kann, wenn der Mensch dazu in der Lage ist, auch bei komplexesten Bewegungen seine eigenen individuellen und natürlichen Bewegungen zu gebrauchen.
Um die grundlegenden Bewegungen, zu denen der Mensch fähig ist, in ihrer Leichtigkeit wieder als erwachsener Mensch nachvollziehen zu können und den dazu nötigen komplexeren Bewegungsansprüchen gerecht zu werden, ohne die individuelle Motorik aufzugeben, hat van de Klashorst in den 1950er Jahren die „Dispokinesis“ mit ihren „Übungen in den Urgestalten“ entwickelt.
Dispokinesis ist eine für die damalige Zeit modische Wortkreation aus zwei unterschiedlichen Sprachen und bezeichnet die Dispositionslehre von Gerrit Onne van de Klashorst. Zunächst das lateinische Wort „disponere“, das häufig mit „frei verfügen über“ übersetzt wird, im weiteren Sinne aber für van de Klashorst besagt, dass der/die ausübende Künstler*in über die ihm/ihr innewohnenden Fähigkeiten am Instrument und damit einhergehend über die notwendigen Fertigkeiten sowie das Ausdrucksvermögen „frei verfügen“ kann.
Der zweite Wortteil stammt vom griechischen „kinesis“ und ist dabei die genauere Definition, dass zunächst die „Bewegung“ des Menschen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Somit ergibt sich die wörtliche Übersetzung: Freies verfügen über Bewegung.
Gestaltenlehre und „Übungen in den Urgestalten“ nach G.O. van de Klashorst
Das Wort „Gestalt“ ist eine in verschiedenen Wissenschaften häufig gebrauchte Bezeichnung, die je nach wissenschaftlichem Fokus unterschiedlich definiert wird. Die Definition kann von einer rein äußeren Form und Erscheinung von Lebewesen und Skulpturen bis hin zu deren Präsenz und Wirkung auf ihre Umwelt reichen sowie die Wahrnehmung der Umwelt und Eigenwahrnehmung mit einbeziehen.
Im Jahr 1940 verfasste der Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker sein theoretisches Hauptwerk „Der Gestaltkreis. Theorie und Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“, das einen großen Teil dazu beigetragen hat, die Auffassung Klashorst’s von „Gestalt“ zu formen. Innerhalb dieses von Weizsäcker formulierten Modells werden die Zusammenhänge von Wahrnehmung und Bewegung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt analysiert.
Dazu schreibt Rainer-M. E. Jacobi:
„Mit der ‚Denkweise im Gestaltkreis’ verbindet sich dann nicht nur ein neues Bild vom Menschen und seiner Wirklichkeit, sondern ein neues Bild der Welt im Ganzen, also auch der Weise, wie wir Menschen in dieses Ganze hineingehören.“
G.O. van de Klashorst hat während seiner Arbeit als Physiotherapeut und Musiker die Auffassung Weizsäckers geteilt und den Begriff der Gestalt aus „der Gestaltkreis“ in seiner Bezeichnung „Urgestalt“ übernommen und dabei die Wirklichkeit von Musiker*innen in den Fokus seiner Aufmerksamkeit gestellt und sich gefragt, was dann bei aller Individualität den Menschen eint. Was den Menschen in seiner Gestalt einerseits einzigartig macht und gleichzeitig von Natur aus verbindet.
Die Antwort ist für Klashorst der aufrechte Stand und das Gehen auf zwei Beinen.
Da der Mensch aber nicht von Beginn seines Lebens an stehen und gehen kann, muss es sich dabei um das Ziel einer Entwicklung handeln, die es dem Menschen möglich macht Erfahrungen zu sammeln um in seiner Zielgestalt die Vorteile in Haltung und Bewegung, die ihm der menschliche Körper bietet, sinngemäß nutzen zu können. Die einzelnen Schritte, die Inhalt einer solchen Entwicklung sind, hat van de Klashorst bei Kleinkindern beobachten können. Erstaunlich dabei ist, dass es sich um Erfahrungswerte und Entwicklungsschritte handelt, die jedes Kind selbständig ohne intellektuelle Anweisung ausführt. Aufgrund dieser Tatsache, hat van de Klashorst diesen Vorgang nicht hinterfragt, sondern ist zu dem Schluss gekommen, dass jedes Kind über ein inneres Wissen verfügt, das es dazu veranlasst, den für sich richtigen Weg zu gehen. Weltweit, seit Jahrtausenden.
Die Gestalten, in denen der Mensch seine ersten Bewegungen ausführt um Kontakt mit seiner Umwelt aufzunehmen und die dazu nötig sind um die für den Menschen typische Haltung einnehmen zu können, hat G.O. van de Klashorst „Urgestalten“ genannt.
Sie bilden die Grundlage der menschlichen Haltung und Bewegung und werden von van de Klashorst in 3 Haltungen eingeteilt. Dem Liegen, Krabbeln und dem Sitzen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Haltung vor der Bewegung geschieht, da sie zur Stabilisation und Energie gegen die Erdanziehung, die aus ihr vollzogenen Bewegungen unterstützt. Sie hat somit Einfluss auf das Bewegungsgefühl, die Bewegungsqualität und den Kraftaufwand der nötig ist, um die Bewegung auszuführen.
Um die grundlegenden Bewegungen zu denen der Mensch fähig ist wieder als erwachsener Menschen nachvollziehen zu können und welche dazu nötig sind komplexeren Bewegungsansprüchen gerecht zu werden ohne die individuelle Motorik aufzugeben, hat van de Klashorst die Übungen in den Urgestalten entwickelt. Sie bilden die Basis der menschlichen Motorik in ihrer Funktion und posturalen Ausrichtung nach. Die sinngemäße und zielorientierte Ausführung der Übungen in den Urgestalten ermöglicht das erneute erfahren der Aufrichtungsreflexe und der ersten individuellen Natur des Menschen.
Dadurch ist eine aktiv wahrnehmbare Begegnung mit muskulären Kompensationen und Stereotypen, die bei höheren Bewegungsansprüchen und daraus resultierenden Überlastungen unterbewusst ausgeführt werden, realisierbar.
Nach van de Klashorst wird in den Übungen nicht der Körper trainiert, sondern der Geist der den Körper leitet. Das heißt, eine Übung wird maximal fünfmal, eher dreimal ausgeführt, da der Körper ab der fünften Wiederholung bereits anfängt eine Bewegung unterbewusst zu leiten und so wieder auf problembehaftete Muster zurückgreifen oder anlegen kann. Dann werden Bewegungen unwillkürlich ausgeführt und der Mensch hat keine Möglichkeit die Reaktionen des Körpers wahrzunehmen und zu kontrollieren. Da das Ziel der Übungen das Erreichen der eigenen individuellen Natur ist aus der heraus man den komplexen Bewegungsansprüchen beim Musizieren gerecht werden kann, gibt es keine allgemein gültige Form des Körpers, keine Maxime die erreicht werden muss. Die Funktion des Körpers und das Vorhaben, mit größtmöglicher Leichtigkeit Bewegungen auszuführen, bilden den Kern um die eigene individuelle Natur erneut zu erfahren. Die einzige Instanz die dem Menschen dabei eine Hilfe ist, ist die gleiche Instanz, die er als Kind bereits gebraucht hat: Das Gefühl.
- Beratung und Hilfe bei berufsbedingten Verspannungen, Schmerzen und Spielproblemen
- Unterricht zur Entwicklung präventiver Fähigkeiten und Eigenwahrnehmung
Schmerzen sind in aller Regel die letzte Möglichkeit unseres Körpers unserem Bewusstsein ein Ungleichgewicht zu signalisieren, das sich zu Lasten der schmerzenden Region auswirkt. Wird keine Änderung herbeigeführt um das Problem zu beheben oder nur versucht die Symptomatik, also den Schmerz selber zu lindern, können daraus noch größere Probleme entstehen, die uns als Musiker*innen die Grundlage zum Musizieren entziehen können.
Dennoch sind Schmerzen für viele Musiker*innen alltäglich und treten nicht selten schon zu Studienzeiten auf. Der übliche Weg einer solchen Entwicklung Einhalt zu gebieten ist eine mehrtägige, mehrwöchige oder sogar mehrmonatige Spielpause in der Hoffnung, dass die schmerzenden Regionen wieder genesen. Die Ursache des Problems bleibt aber in aller Regel bestehen und führt bei der Wiederaufnahme der musikalischen Tätigkeit nur dazu, dass auch die gewohnten Schmerzen erneut auftreten.
Um die Möglichkeit zu haben aus diesem Teufelskreis auszutreten und Musik wieder als natürliches Ausdrucksmittel zu erfahren, ist es zwingend erforderlich die Ursache der Probleme herauszufinden und selber wahrzunehmen, da eine Veränderung nur eintreten kann, wenn man im Stande ist, hemmende Muster zu erkennen.
- Optimierung der Spielhaltung, Bewegungssteuerung und Instrumentalergonomie
Ein zentraler Punkt in der Arbeit mit Musiker*innen ist die Analyse der gewohnten Disposition beim Musizieren. Da jeder Mensch individuell zu betrachten ist, wird eine Beurteilung in richtig oder falsch nicht vorgenommen, sondern ob die Interaktion mit dem Instrument problembehaftet ist oder nicht. Es gilt dabei eine für den/die Musiker*in individuell optimale Art zu finden, sich frei und natürlich auf dem Instrument oder mit Hilfe der Stimme auszudrücken.
Hinzukommend bieten ergonomische Hilfen die Möglichkeit das Instrument für den/die Musiker*in optimal anzupassen.
- Reedukation bei unwillkürlichen Bewegungsstörungen bis hin zu fokalen Dystonien
Bewegungsstörungen, die unwillkürlich, also nicht bewusst gesteuert, bei einer definierten Tätigkeit wie dem Musizieren auftreten und somit eine Form des Kontrollverlustes darstellen, können aus mannigfaltigen Gründen erwachsen und sind meist Resultat von problembehafteten und hemmenden Haltungs- und Bewegungsvorstellungen sowie Umsetzungen, die über Jahre hinweg bei der entsprechenden Tätigkeit gebraucht wurden.
Die Symptome sind dabei instrumentenspezifisch, den jeweiligen Bewegungsansprüchen, die an den/die Musiker*in gestellt werden, nach zu definieren und können daher in Form von Ansatzproblemen bei Blasinstrumentalisten*innen durch Verspannungen in der Lippenmuskulatur bis hin zu abspreizenden Fingern, bei fast allen Instrumentalisten*innen, u.a. reichen. Je nach Schwere der Symptomatik, kann die Bewegungsstörung die Ausübung des Berufes nicht nur erschweren, sondern auch gänzlich unmöglich machen.
Der reedukative Prozess beinhaltet zunächst dem/der Musiker*in die Möglichkeit zu geben, nachvollziehen zu können, welche Ursache der Bewegungsstörung zugrunde liegt. Dafür ist es notwendig, die für das Musizieren komplexen Bewegungen im Bewusstsein neu erlebbar zu machen, um hemmenden Bewegungsvorstellungen und Bewegungsinitiationen einem leichteren, dem/der Musiker*in individuell, natürlicheren Weg zum Musizieren gegenüberzustellen.
In sehr seltenen Fällen kann es sein, dass die Ursache einer Bewegungsstörung pathologisch ist.
Bei einer fokalen Dystonie handelt es sich als Beispiel um eine neurologische Erkrankung, die sich in ihrer Symptomatik durch unwillkürliche Verkrampfungen als Folge übermäßiger Muskelanspannung bei intensiv über einen langen Zeitraum genutzten Bewegungen äußert und wird nicht selten als schwerwiegendste Bewegungsstörung bei Musiker*innen angesehen. Da die Symptomatik sehr unterschiedlich instrumentenspezifisch und individuell bei Musiker*innen auftreten kann, unterscheidet die Medizin mittlerweile zwischen verschiedenen, genauer definierten Bezeichnungen wie zum Beispiel: Inhibitorische Dystonie, spasmodische Dystonie, dystoner Krampf und einigen mehr.
Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen setze ich einen Schwerpunkt auf den Umgang und die Reedukation bei fokalen Dystonien. Bei meiner Beurteilung einer unter diesem Gesichtspunkt vermutenden Symptomatik ist der Befund eines/r Neurologen*in Voraussetzung für die weitere Arbeit mit dem/der Musiker*in, da neben der Dystonie auch weitere neurologische Erkrankungen als Ursache in Frage kommen können.
Für ein erstes Einlesen können Sie meinen Erfahrungsbericht einsehen um nachvollziehen zu können, dass ich mit den weitreichenden Folgen einer solchen Diagnose vertraut bin.
Erstgespräch
Das Erstgespräch ist bei meiner gemeinsamen Arbeit mit Musiker*innen obligatorisch und dient nicht nur dem Kennenlernen, sondern der genauen Bestandsaufnahme motorischer Einschränkungen. Um diese in Zusammenhang setzen zu können mit der Arbeits- und Lebenswirklichkeit des/der Musiker*in ist ein tiefergehendes Gespräch über den individuellen Umgang mit dem Instrument notwendig.
Dazu zählen unter anderem:
- Übegewohnheiten
- Arbeitsbedingungen
- Herausforderungen im Alltag
- körperliche Einschränkungen
- Entwicklung am Instrument (musikalischer Werdegang)
Bis hin zur näheren Betrachtung der eigenen Bewegungen am Instrument. Wie zum Beispiel:
- Disposition am Instrument
- Was nimmt der/die Musiker*in aktiv an Bewegung wahr?
- Von wo aus wird die Bewegung geführt?
- Woran wird gedacht?
Erfahrungsbericht fokale Dystonie
Der folgende Text beinhaltet einen kleinen ungeschönten Einblick in meine Erfahrungen mit der Erkrankung an fokaler Dystonie und soll dazu dienen, anderen betroffenen Musikern*innen anonym Informationen zukommen zu lassen und auch aufzuzeigen, dass die Diagnose nicht das Ende der Musikerlaufbahn sein muss.
Wichtig ist ebenfalls, dass die Schwere der Krankheit sehr unterschiedlich ausfallen kann und meine Erfahrungen in ihrem Umfang der Folgen nicht für jede/n gilt.
Zusammenfassung:
Im Mai 2012 wurde bei mir von Eckart Altenmüller am Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover eine neurologische Nervenerkrankung diagnostiziert, die sich in unwillkürlichen Verkrampfungen bei lang eintrainierten Bewegungsabläufen äußert und als fokale Dystonie bezeichnet wird. 5 Monate zuvor hatte sich beim Üben am 2. Januar meine rechte Hand in die Saiten der Gitarre gedrückt und derart verkrampft, dass ich nur mit Hilfe meiner linken Hand dazu in der Lage war die Verkrampfung zu lösen.
Ausführlicher Bericht:
Am 2. Januar 2012 hatte ich während des Übens immer größer werdende Probleme mithilfe des Plektrums die Saiten der Gitarre in kleinen Bewegungen anzuspielen. Beim Hinunterschauen auf meine Hand bemerkte ich, dass sich mein Daumenballen in die Saiten drückte, das Plektrum die Saiten von der Gitarre wegzog und sich Mittel-, Ring- sowie kleiner Finger ausgestreckt nach außen wegdrehten und somit mehr Spannung auf den Daumenballen ausübten. Die Spannung in der Hand war so groß, dass ich das Plektrum aus dem Daumen und Zeigefinger verlor ohne willkürlich darauf Einfluss nehmen zu können. Ohne den durch die Saiten schmerzenden Daumenballen und die Tatsache, dass ich keinen Ton mehr spielen konnte, hätte ich die Bewegung und das Erstarren der Hand gar nicht bewusst wahrgenommen. Erst als ich mit der linken Hand die Rechte von den Saiten gelöst hatte, konnte ich wieder aktiv Einfluss auf die Bewegung nehmen.
Selbstverständlich versuchte ich danach erneut Gitarre zu spielen, aber das Ergebnis war von da an stets das Gleiche. In den darauffolgenden Tagen gelang es mir ein paar Töne zu spielen, wobei der Fokus musikalischen Anforderungen nicht gerecht wurde, sondern nur darin bestand, die Saiten überhaupt zu treffen. Manchmal schaffte ich es nicht einmal einen oder zwei Töne zu spielen. Die Kontrolle über die Bewegung verflog anfangs noch kurz vor dem Kontakt mit den Saiten, nach ein paar Wochen auch schon beim Gedanken an das Gitarre spielen selbst. Mit dem Plektrum überhaupt Kontakt zum Instrument aufzubauen und sei es nur um die Zarge zu berühren, kostete plötzlich die volle Konzentration und wurde dann mit einem unwillkürlichen Wegdrehen der Hand quittiert, die ich ohne ablassen vom Instrument durch das Eingreifen der linken Hand kaum beruhigen konnte.
Später reichte der Gedanke auch aus um ähnliche Auswirkungen auf meine Motorik bei anderen Tätigkeiten zu haben. Einen Löffel in der Tasse zu drehen wurde zur Qual. Meine Handschrift und gerade die Schreibschrift, etwas mit dem ich nie Probleme hatte, veränderte sich derart, dass ich anfing nur noch in Großbuchstaben mit möglichst wenigen Rundungen zu schreiben. Eine schnelle Unterschrift, vollkommen undenkbar. Jede Tätigkeit, die ein wenig feinmotorische Steuerung beinhaltete, konnte von den Problemen torpediert werden.
Selbst in dieser Zeit hatte ich noch die Hoffnung, dass es sich dabei um eine Überbelastung handelt die genesen würde, wenn ich mehr Pausen einlegte. Also tat ich genau das. Dann, weil keine Veränderung eintrat, keine Pausen. Die Suche nach der Ursache konnte nicht abwegig genug sein, von der Freizeitgestaltung bis hin zu Mahlzeiten wurde alles hinterfragt und ausprobiert, aber nichts half. Kam es an einem Tag mal vor, dass wenige Töne gespielt oder eher Saiten berührt werden konnten, versetzte mich das in ein Hochgefühl und eine Hoffnung am nächsten Tag oder einen Moment später würde es wieder klappen, breitete sich aus.
Etwa im März 2012 kontaktierte ich zum ersten Mal einen Mediziner mit musikermedizinischem Schwerpunkt und schilderte mein Problem, mit dem Hinweis, dass ich hin und wieder ein paar Töne spielen könne. Ich hatte die Hoffnung, man würde mir sagen, dass ein solches Problem bekannt sei und ich der Einzige bin, der davon noch nichts gehört hatte und wenn ich es schaffen würde viermal eine Saite bewusst zu berühren, ich somit schon das Schlimmste hinter mir hätte. Leider sagte man mir das nicht, stand mir aber bei der Problemsuche zur Seite und so schien es, da ich 2011 wegen einer Schilddrüsenunterfunktion täglich eine Tablette nehmen musste, dass eine mögliche Ursache der Probleme schnell gefunden wurde. Nach Rücksprache mit meinem Hausarzt wurde das Medikament abgesetzt, auch wenn die Genesung von meinen Spielproblemen in diesem Zusammenhang einzigartig gewesen wären, hatte ich die Hoffnung, etwas würde sich verbessern. Und tatsächlich, hin und wieder gelang es mir, zwei bis dreimal an einigen Tagen eine Saite mit dem Plektrum zu berühren, was auch schon vorher der Fall war und nachher ebenfalls. Aber in einer Situation, in der ich selber unterbewusst wahrgenommen habe, dass mein Körper unwillkürlich Bewegungen ausführt, die ich nicht kontrollieren, nicht erdenken, nicht mal ansatzweise nachvollziehen kann und man der Situation ausgeliefert ist bevor man eigentlich merkt was geschieht, ist jeder Strohhalm etwas, an das man sich festhält, solange es geht.
Ich musste im Mai feststellen, dass sich die Auswirkungen eher verschlimmerten als das sie besser wurden. Die Tatsache, dass man nichts spürt und zusehen kann wie man die Kontrolle verliert, ganz gleich wie sehr man versucht sich in die Bewegung gedanklich zu versetzen, machte mich rasend. Als würde man gegen eine unsichtbare Wand laufen.
Ich nahm erneut Kontakt zu den Medizinern mit musikermedizinischem Schwerpunkt auf und wurde nach Hannover verwiesen, mit dem Hinweis, dass es eine Krankheit namens „fokale Dystonie“ gibt, die Ursache für meine Probleme sein könnte und deren Diagnose nur die Kollegen in Hannover stellen sollten. Wenige Tage danach wurde diese Vermutung in Hannover bestätigt. Ich hatte den Namen der Krankheit bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht ganz nachvollziehen können, weil ich es als abwegig empfand so etwas zu haben, schließlich konnte ich ja mit viel Glück ein paarmal die Saite mit dem Plektrum treffen und ich würde das schon wieder hinbekommen.
Spätestens als man mir dazu riet aufgrund meines noch jungen Alters nicht nur die Laufbahn eines professionellen Musikers, sondern das Gitarrespielen generell aus dem Mittelpunkt meines Lebens zur Seite zu stellen und mich nach etwas anderem umzusehen, weil eine Verbesserung der Symptomatik aussichtslos schien, wurde mir die Tragweite meiner Probleme bewusst.
Bei einer fokalen Dystonie handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die sich in ihrer Symptomatik durch unwillkürliche Verkrampfungen als Folge übermäßiger Muskelanspannung bei intensiv über einen langen Zeitraum genutzten Bewegungen äußert. Da die Symptomatik sehr unterschiedlich instrumentenspezifisch und individuell bei Musikern und Musikerinnen auftreten kann, unterscheidet die Medizin mittlerweile zwischen verschiedenen genauer definierten Bezeichnungen wie zum Beispiel: Inhibitorische Dystonie, spasmodische Dystonie, dystoner Krampf und einigen mehr. Die Bekämpfung der Symptomatik machte für mich keinen Sinn, da ich mich nicht abhängig machen wollte von Medikamenten oder Spritzen und wenn die Ursache bleiben würde, wäre die Situation nicht geändert worden. Die Ursache, so musste ich später feststellen, konnte ich ebenso wenig beheben, da sich Synapsen in den Fingerrepräsentationsarealen der Kortex unwiderruflich miteinander verknüpft haben und so bei jeder Ausführung der Bewegung gestärkt werden.
Der natürliche und intuitive Weg zur Musik schloss sich durch die Dystonie und es schmerzte zu sehen, dass sich daran auch nichts änderte, sondern die Symptomatik immer mehr an Macht gewann.
Frei nach dem Motto “wer nicht kämpft hat schon verloren“, begann ich im Internet zu recherchieren, ob es eine Möglichkeit gibt, zumindest den Versuch zu wagen einen Weg zu finden wieder musizieren zu können. Es finden sich meines Erachtens nach erstaunlich viele Informationen über eine so wenig erforschte Krankheit im redaktionsfreien Raum des Internets. Viele sind nicht übereinstimmend mit den Informationen, die ich von den führenden Medizinern bekommen habe und die meisten bleiben so vage, dass die reine Information im Inhalt eher einer Spekulation gleicht oder mit Abwandlungen den immer gleichen Text als Quelle herbeizieht.
Dann viele Möglichkeiten der Hilfe. Von Arbeitsbegriff ist die Rede, ausprobieren und sogar Vitamin D soll eine Rolle spielen, aber Erfahrungen? Wenigstens mit und von anderen Musiker*innen mit einer solchen Diagnose?
Der Konjunktiv wird meistens gebraucht und so viel Hilfe angeboten, dass man die Vermutung bekommt jede/r zweite Musiker*in hat eine Dystonie und die Krankheit ist gar nicht so selten wie ich es noch im musikermedizinischen Institut in Hannover hörte.
Oder man versucht mit etwas zu werben, dass sich gut anhört, häufig als „Worst Case“ beschrieben wird und man somit nach außen hin etwas verkaufen kann und eine Kompetenz auf einem Gebiet darzustellen versucht, die man nicht hat und dessen Tragweite und Auswirkungen man nie erfuhr, sondern zu Werbezwecken auflistet. Ein ekelhaftes Prinzip, dessen Teil und Opfer ich nicht werden wollte.
Ich nahm Kontakt zu Joachim Schiefer auf, einem Cellisten aus Wuppertal, dem das Gleiche widerfahren war und der nach 7 Jahren des Neulernens wieder musizieren kann. In seinem Studio für Musikermotorik und Instrumentalergonomie hilft er seitdem Musikern und Musikerinnen, die aufgrund verschiedener Probleme in ihrer Möglichkeit sich musikalisch auszudrücken, eingeschränkt wurden.
Es half mir schon ungemein einem Menschen gegenüber zu sitzen, dem ich nicht erklären brauchte, wie es sich anfühlt sich selber dabei zuzusehen seine musikalischen Fertigkeiten zu verlernen. Vom psychischen Gemütszustand und der Erwerbslosigkeit als Musiker ganz zu schweigen.
Da eine Dystonie nicht im herkömmlichen Sinne heilbar ist, gibt es die Möglichkeit, die eigene Motorik und damit den Bewegungsablauf, der nötig ist zum Musizieren, neu zu erlernen und einen Weg zu finden, Bewegungen auszuführen, ohne dass die Dystonie ausgelöst wird. Das heißt, man muss auf eine vollkommen neue Weise über Jahre und Jahrzehnte lang eintrainierte und unbewusst ablaufende Bewegungen zunächst bewusst machen, um sie dann durch neue Bewegungen zu umgehen. Da die Sprache nicht ausreicht einen Erfahrungswert weiterzugeben, können Sie sich vorstellen ihre eigene Nase mit dem Zeigefinger zu kratzen, ohne zu wissen wie der Zeigefinger zur Nase kommen soll? Jede Art ihn zur Nase zu führen löst die Dystonie aus, weil die Bewegung auf den immer gleichen Vorstellungen und Erfahrungen beruht. Sich etwas vorzustellen, dass außerhalb der eigenen Erfahrung liegt und etwas auszuführen, dass jenseits der Vorstellungskraft liegt, ist unmöglich. Also muss man seinem Körper die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu sammeln, neue Reize wahrzunehmen, dem Hirn klarzumachen, dass es außerhalb des eigenen Denkrahmens noch weitere, leichtere Wege gibt zum Ziel zu gelangen. Das dann in jeder Bewegung: Vom Nase kratzen, über das Händeschütteln, zum Umrühren mit dem Löffel beim Espresso trinken und bis hin zu den hochkomplexen Bewegungen beim Musizieren.
Joachim Schiefer hatte mir davon berichtet, aber was das genau heißen würde wusste ich nicht.
Ich gab mir zunächst ein Jahr indem ich erfolgreich die Dystonie umgehen würde, um danach wie ein Phönix aus der Asche wieder Musik machen zu können. Dass der Plan eher tollkühn als realistisch war wurde mir in den ersten Monaten bereits bewusst. Die Dystonie machte sich auch ohne Instrument in den rudimentärsten Bewegungen bemerkbar und das Neuerlernen meiner motorischen Aktionen war ganzheitlicher als ich es mir vorgestellt hatte.
Es sollte am Ende 8 Jahre dauern in denen ich das Neuerlernen in den Mittelpunkt meines Lebens stellte. Ein weiteres um Vertrauen zum Instrument und in die eigenen Fähigkeiten wieder zu erlangen, mich intuitiv beim Musizieren auf meinen Körper verlassen zu können. Jede Bewegung musste auf jede erdenkliche Art erfahren werden. Von der Bewegungsvorstellung über die Vorbereitung bis hin zur Ausführung. Es macht einen Unterschied ein und dieselbe Bewegung aus unterschiedlichen Perspektiven zu denken. Nicht aus Spaß, weil man Zeit hat und gerade nichts besseres zu tun, sondern weil es notwendig ist, die Bewegung in Gänze zu verstehen und begreifen zu können. Die Dystonie war nie absehbar, nichts was sich anbahnte oder mit den eigenen kognitiven Fähigkeiten erfassbar war. Aber alles um sie herum konnte und musste erfahren werden.
Der Weg ist nicht leicht. In einem so langen Zeitraum geht das Leben weiter und der psychische Druck nimmt nicht ab, da die Fortschritte nicht kontinuierlich oder absehbar sind. Man befasst sich hauptberuflich damit, sich die Möglichkeit zu erarbeiten, irgendwann einmal wieder eine Bewegung ohne dystone Symptomatik auszuführen und es hilft nichts den Kopf dabei in den Sand zu stecken, zu hoffen, jemand würde einem aus den Löchern helfen, in die man fällt. Man muss selber aktiv sein und die Erfahrungen machen die es braucht, um Fortschritte machen zu können. Es kann auch vorkommen, dass man denkt einen Fortschritt gemacht zu haben und nach drei Wochen oder drei Monaten macht die Dystonie den Weg zu. Wieder eine Erfahrung, wieder etwas gelernt.
Wenn ich Fortschritt schreibe, meine ich vor allem eine Veränderung in der Wahrnehmung, die im besten Fall eine Veränderung in der Ausführung herbeiführt. Fortschritte sind für Außenstehende gar nicht und große Fortschritte wenn überhaupt, kaum sichtbar. Joachim Schiefer konnte es aufgrund seiner eigenen Erfahrungen sehen, sich in mich hineinversetzen und mir zum richtigen Zeitpunkt die nötige Hilfe bieten.
Ein Prozess, der so lange dauert erfordert Offenheit, Geduld, Humor und Mut, da man immer und immer wieder mit sich selber auseinandersetzen muss und dabei immer und immer wieder an die eigenen Grenzen tritt. Er birgt aber auch die Chance, die Interaktion mit dem Instrument und der eigenen Musik neu zu erfahren.
Heute bedeutet für mich Gitarre spielen und Musik machen, Freiheit. Ich konnte vor der Dystonie nicht differenzieren, ob ich aus Lust und Begeisterung die Gitarre in die Hand nehme oder aus Gewohnheit und äußerem Druck. Ob ich spiele um zu üben oder übe um zu spielen.
Es ist im Nachhinein erstaunlich, wie viel der Körper im Stande ist unterbewusst zu steuern, nur um mir dabei zu helfen, meinen Willen durchzusetzen. Diese unterbewusste Steuerung zu erfahren und hinterfragen zu können, hat mir gezeigt, dass der Körper dabei in aller Regel mehr Kraft als nötig und damit mehr Muskeln als gefordert aktiviert. Erfahren zu dürfen wie befreiend und leicht es sich anfühlen kann, einen Ton auf einem Instrument zu erzeugen, weil man genau spüren und steuern kann, wann welche Bewegung von wo aus initiiert wird und der Körper auch lernen kann, reflexartig nicht auf Nummer sicher zu gehen, sondern nur das Nötige zu tun, das notwendig ist um Musik zu gestalten, hat mir dabei geholfen, mein Instrument als Verlängerung meines Körpers zu sehen.
Würde ich mich wieder für diesen Weg entscheiden?
Vermutlich ja. Die Entscheidung, Musik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, ist so wenig rational erklärbar wie die, dafür zu kämpfen. Die Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren im Umgang mit meinem Instrument machen durfte, gehen leider über die Erfahrungen hinaus, die man im Studium macht und ich möchte sie nicht missen, weil ich nun aus eigener Erfahrung genau weiß und spüre was ich tue und nicht tue. Da ich mit Leichtigkeit feinmotorische Bewegungen im Stande bin auszuführen, geschehen ehemals trainingsbasierende Bewegungsabläufe in ihrer Komplexität, Geschwindigkeit oder Repetition heute so mühelos, dass ich mich häufig dabei erwische, ungläubig beim spielen zu lächeln und glücklich zu sein.
Musik zu erfahren als leichten, selbstverständlichen, eher bewusst aktiven als unterbewusst trainierten Weg sich auszudrücken, wird heute mehr und mehr zum Privileg.